Bach und die lutherische „Theologie“ der Musik

Wenn ich Bachs Musik studiere, versuche ich mich über die Denkweise die diese Meisterwerke hervorgebracht hat zu informieren. Ein Blick auf die Musikphilosophie Martin Luthers gibt einen Hinweis darauf, denn Bach hat sehr an Luthers Philosophie geglaubt.

Luthers Musikphilosophie, wie ich sie verstehe, geht ungefähr so:

  • Das Wesen Gottes offenbart sich in und durch die musikalischen Proportionen. (Weisheit von Soloman).
  • Musik spiegelt nicht nur die Ordnung des erschaffenen Universums durch ihre eigene numerische Ordnung wider, sondern kann Individuen positiv beeinflussen, indem sie sie mit der größeren Ordnung der Schöpfung (Gott) “in Verbindung bringt”.
  • Musik macht den Menschen empfänglich für das Wort Gottes und verleiht der Botschaft Nachdruck und Kraft.
  • Durch Musik wird das Unsichtbare hörbar. Daher ist es seine Aufgabe, Gott zu loben und die Menschheit zu erbauen.
  • Musik ist ein Geschenk Gottes - eine Klangpredigt.

Dietrich Bartel (Musica Poetica University of Nebraska Press, 1997) extrapoliert so weiter:

[In dieser Zeit] ist der menschliche Wunsch, an der musikalischen Aktivität teilzunehmen, weniger ein Bedürfnis nach Selbstdarstellung, wie es die Humanisten meinen, sondern es ist eine Sehnsucht nach und ein Spiegelbild einer Beziehung zum Schöpfer. Musik kann daher im Kampf gegen melancholische Depressionen und Mächte der Finsternis eingesetzt werden. Für lutherische Komponisten war, im Gegensatz zu den Italienern, die musikalische Komposition wie die Predigt - die “lebendige Stimme des Evangeliums”. Und wie der Prediger sollte der Komponist alle notwendigen künstlerischen Mittel einsetzen, um seine Zuhörer zu überzeugen. Zum Beispiel Rhetorik. Die Rolle der lutherischen Musik war daher pädagogisch.

Luthers Musiktheologie spricht von den musikalischen Proportionen. Diese sind auf der einfachen Theorie des Monochords (verwendet seit dem Mittelalter) beruhend. Wenn also ein gespanntes Stück Schnur auf halbem Weg gestoppt wird, haben die beiden Hälften ein Verhältnis von 1:1 und sind ein Unisono. Wenn ein Drittel des Weges gestoppt wird, ist das Verhältnis 1:2, und das erstellte Intervall ist eine Oktave…usw. Zusammenfassend:

  • Unisono: (C) 1:1
  • Oktave (C -c )1:2
  • Quinte (c - g) 2:3
  • Vierte: (g - c’) 3:4
  • Große Terz (c’-e’) 4:5
  • Kleine Terz (e’-g’) 5:6
  • Große Sechste (g - e’) 3:5
  • Kleine Sechste (e’-c’’) 5:8
  • Ganzton: (c’’-d’’) 8:9
  • Halbton: (b’’-c’’’) 15:16

Auf der Grundlage von dieser Erkenntnis war der „göttliche Ursprung“ der musikalischen Intervalle im Verständnis der deutschen Barockmusiktheoretiker wie folgt:

Unison 1:1 - der Ausgangspunkt aller Musik/Kreation. Vollkommenheit = Gott. Werckmeister*:

1 = Gott der Vater

2 = der Sohn

3, die Quinte (2:3) = Heiliger Geist

1:2 = Oktave = Vater:Sohn

4 = eine engelhafte oder himmlische Zahl, die die Engel darstellt, die den Willen Gottes erfüllen. Als „kosmische“ Zahl repräsentiert sie auch die vier Elemente, Jahreszeiten und Temperamente. Darüber hinaus vereint die vierte (3:4) die Trinität (1:2:3) mit der Triade (4:5:6)

5 = Menschlichkeit, (5 Sinne, 5 Anhängsel). Erst wenn sie in den göttlichen Kontext gestellt wird, d. h. zwischen der Quinte, findet die Menschheit Erfüllung. (4:5:6; 4:6 = 2:3)

Die kleine Terz (5:6) bleibt allein ohne den göttlichen Kontext (2:3)

7 erscheint nicht in den Proportionen, denn es ist eine „mysteriöse“ und „heilige“ Zahl. Es „ruht“, wie Gott am Sabbat, dem 7. Tag der Schöpfung, ruhte.

* Werckmeisters Schriften waren Johann Sebastian Bach gut bekannt.

Bach baute auch seinen eigenen Namen in Stücke ein – vermutlich in Stücke die für ihn eine besondere Bedeutung hatte. Zum Beispiel die dritte Violinsonate in E-Dur BWV1016:

B=2, A=1, C=3, H=8.

2+1+3+8 = 14

2x1x3x8 = 48

48 – 14 = 34 (die Taktzahl im ersten Satz)

48 x 3 (Heilige Dreifaltigkeit) = 144 (die Anzahl der Takte im zweiten Satz)

48 + 4 (Engel) = 62 (die Anzahl der Takte im dritten Satz ohne die Coda)

11 (Jünger) x 14 =154 (die Anzahl der Takte im letzten Satz)

Laut George Bülow „betrachtete Bach die Musik als das Endergebnis von Gottes Werk“. Das Ziel der Barockmusik wurde daher, beim Hörer bestimmte Affekten (Emotionen) zu wecken. Tonarten wurden jedoch verwendet, um eine Affekt auszudrücken, da sowohl das angeborene Temperament des Komponisten als auch des Hörers die Wirksamkeit der Tonarten beeinflusste, benutzt man auch Rhythmus- und Tempoangaben (numerische Ausdrücke) als zuverlässige Hinweise auf die Affekt.


Johann Mattheson (1681 – 1764), deutscher Komponist und Musiktheoretiker, verstärkte dies durch die Ausarbeitung typischer barocker Tanzformen:

Menuett - mäßiger Genuss

Gavotte - jubelnde Freude

Bouree - Zufriedenheit usw.

Affektionen, über die ein allgemeiner Konsens besteht:

  • Kummer: harte oder kratzende Intervalle und Harmonien, synkopierte Rhythmen, Intervalle weit entfernt von der Perfektion (Unisono)
  • Wut: dasselbe wie Trauer, aber in einem schnellen Tempo
  • Freude: Konsonant, perfekte Intervalle, Dur. Rhythmus schneller, keine Synkopen, dissonanzen. Streben nach Einheit. Tessitura hohe, hellere Klänge. Dreifache Zeit (Trinität, Vollkommenheit).
  • Liebe: Sehnsucht und Freude. Instabil. gegensätzliche Effekte. Harmonisches und melodisches Material beinhaltet sowohl mitreißende als auch sanfte Intervalle. Sowohl weiche (Halbton) als auch seltsame Intervalle. Das Tempo und der Rhythmus sind ruhig wie bei den traurigeren Zuneigungen.

In den Bach-Sonaten kommen die Grundgefühle – Trauer, Wut, Freude und Liebe – in Hülle und Fülle zum Ausdruck. Ich habe auch die Theorie aufgestellt, dass die Stimmungen einiger Sonaten mit besonderen Ereignissen im lutherischen Kalender zusammenfallen – insbesondere Weihnachten und Ostern.